Heimatverein Lutherstadt Wittenberg und Umgebung e.V.
  Das Geheimnis des alten Kretzschmanns
 

Vor 500 Jahren hielt Melanchthon seine Antrittsvorlesung an der Wittenberger Universität. Wenn wir über den Marktplatz gehen, werden wir durch die Denkmale von Martin Luther und Phillip Melanchthon stets an unsere berühmten Vorfahren erinnert. Beim Archivieren fand ich nachfolgende Kurzgeschichte, die auf Tatsachen beruht.               Elke Hurdelbrink

 

Das Geheimnis des alten Kretzschmann.

(Von Hermann Dümichen in Bülzig.)

Am 19. April 1860 wurde in Wittenberg der Grundstein zu dem Melanchthondenkmal gelegt. Die feierliche Grundsteinlegung wurde von dem damaligen Prinzregenten, dem späteren Kaiser Wilhelm I., vollzogen. Am Vormittag waren die hohen Herrschaften mit Sonderzug von Berlin nach Wittenberg gekommen und wollten nachmittags 14:45 Uhr von Wittenberg zurückfahren, so dass sie gegen 15:00 Uhr die Station Zahna durchfahren mussten. Vergeblich wartete man zu dieser Zeit in Zahna auf das Signal der Abfahrt. Der diensthabende Stationsvorsteher in Wittenberg, der den Zug pünktlich abgelassen hatte, vergaß nämlich in seiner Aufregung und Freude, weil alles so schön glattgegangen war, das Zeichen der Abfahrt nach Zahna zu geben. In Zahna war aber der Verkehr, nach dem vormittags der Sonderzug durchgefahren war, in gewohnter Weise weitergegangen, und dabei war das Gleis, welches nachmittags der Sonderzug befahren musste, mit dem nach der Ausladerampe führenden Gleis verbunden. Das hatte ja nicht das Geringste auf sich, denn wenn der Zug des Prinzregenten in Wittenberg abgelassen wurde, musste er das Signal nach Zahna gegeben werden, und dann bedurfte es nur eines Augenblicks, die Weiche war herumgestellt, und der Zug konnte passieren.

Nun aber tauchte plötzlich der Sonderzug von Wittenberg aus dem Nebel vor der Einfahrt zum Bahnhof auf – und ehe noch der Schrecken, der den Stationsvorsteher überfällt, vorüber ist, braust schon der Zug vorbei. – – Ein Krachen – und alles ist vorüber!

Ja, wahrhaftig, wenn‘s noch so wunderbar klingt – der Zug ist nicht aus dem Gleise gesprungen, ist nicht die Böschung herabgestürzt. – –

Das Herzstück der Weiche ist gebrochen – das war jenes Krachen, – aber der Zug ist unbeschädigt geblieben und hat den Prinzregenten sicher und wohlbehalten, nach Berlin zurückgeführt.

Gott der Herr hat seine schützende Hand über ihn gehalten. Man sagt, es sei dem alten Kaiser Wilhelm aus Rücksicht auf den Beamten in Wittenberg, der dadurch unglücklich geworden wäre, diese Begebenheit unbekannt geblieben. Sämtliche hieran beteiligten Beamten versprachen sich über diesen Vorfall Stillschweigen. Erst als fast alle ihr Geheimnis mit ins Grab genommen, kam die Sache ans Licht.

Der damalige Weichensteller Kretschmann, der über 80 Jahre alt geworden ist, hat sich des aufregenden Ereignisses bis in sein Alter sehr genau erinnert und hat gesagt: „Wie die Rettung damals möglich gewesen ist, ist uns allen ein Rätsel. Wir alle dachten, der Zug müsse die Böschung hinunterstürzen und wagten erst gar nicht hinzusehen. Der Zug muss über die Weiche gesprungen sein.“

Gefunden in Heimatgrüße - Evangelisches Monatsblatt des Kirchenkreises Zahna Mai 1920.

Foto: Erhard Düsedau