Heimatverein Lutherstadt Wittenberg und Umgebung e.V.
  Ordnung muss sein - ...
 

Ordnung muss sein - oder wo sind die Gardinen geblieben?

Von Mittelschullehrer Belding, Wittenberg
 

Wilhelm von Preußen, der nachmalige erste deutsche Kaiser, nahmen mit großem Gefolge an den Veranstaltungen teil. Zur Unterkunft war ihnen die damalige Kommandantur, das spätere Garnisonlazarett, neben der Schlosskirche zugewiesen worden. Alles klappte vorzüglich und fand den Beifall der hohen und höchsten Herrschaften, die ihrer besonderen Zufriedenheit in einem ergiebigen Ordensregen, der sich über die Bürger Wittenbergs ergoss, Ausdruck verliehen, so dass auch diese allen Grund zur Zufriedenheit hatten. Und doch war etwas nicht in Ordnung. Der Hof hatte sein Quartier geräumt und war abgereist. Der Garnisonkommandant von Busse übernimmt die Räumlichkeiten wieder und entdeckt, dass sie nicht mehr da sind, die fünf schönen Musselingardinen, die man vor den Feierlichkeiten eben erst neu angeschafft hat, um das königliche Quartier besonders herrschaftlich und vornehm auszustatten. Und sie müssen doch da sein, sie stehen doch im Inventarverzeichnis; bei den „Preußen“ herrschte auch schon damals Ordnung, also müssen sie wieder herbeigeschafft werden. Man sucht, man forscht, stellt peinliche Verhöre an und – sie bleiben verschwunden. Da wendet man als letztes Mittel die Flucht in die Öffentlichkeit an. In Nummer 21 des Wittenberger Kreisblattes vom 23. Mai 1846, das damals wöchentlich im Großquartformat vier Blatt stark erschien, wurde folgende Anzeige veröffentlicht:

„Es werden seit der Anwesenheit Sr. Majestät des Königs in der Kommandantur 5 Stück ganz neue Musselingardinen, mit weißen durchbrochen Borden besetzt, jedes Stück 5 Ellen lang, vermisst. Sollte Jemand irgendwie darüber Auskunft geben können, so wird gebeten, solches gefälligst anzuzeigen. Verschweigung des Namens und dem Werte angemessene Belohnung wird zugesichert.“

Mit Spannung wartete der ordnungsliebende  Kommandant auf den Erfolg dieser Anzeige; es sollte ein ganz unerwarteter sein und das kam so. Der damalige Landrat des Kreises Wittenberg, Otto von Jagow, der später Hofrat in Berlin wurde, konnte es sich nicht verkneifen, seinem Vetter, dem Adjutanten des Prinzen Wilhelm, der ihn bei seinem Besuche so etwas von oben herab „als einen Provinzler“ angesehen hatte, und der ganzen hochnoblen Hofgesellschaft eins auszuwischen und sandte ihm das Kreisblatt mit der rot angestrichenen Anzeige zur gefälligen Kenntnisnahme, gewissermaßen mit dem Hinweis: „So etwas kommt bei Euch vor!“ Von dem Adjutanten erhielt es der Prinz und von diesem der König. Alle freuten sich des diensteifrigen und gewissenhaften Kommandanten von Wittenberg. Und wenige Tage später erhielt dieser ein eigenhändiges Schreiben des Prinzen Wilhelm, in welchem dieser eidesstattlich versicherte, dass weder der König noch er oder andere Angehörige des königlichen Hauses die Gardinen mitgenommen hätten. Dieser Brief befindet sich noch heute im Besitz der Familie von Busse; die Gardinen aber blieben verschwunden. Ob sie vielleicht noch als wertvolles Andenken an jene Tage irgendwo aufbewahrt werden?                                                                                          
Quelle: Heimatkalender 1922