Heimatverein Lutherstadt Wittenberg und Umgebung e.V.
  Piesteritzer Karbid
 


Geburtsstunde des Piesteritzer Karbides

am Weihnachts-Heiligabend 1915



Es war an einem stürmischen, kalten Dezember-Winterabend. Der eisige Nord-Ost-Wind hatte die Verbindungsstraße der Dörfer Apollensdorf und Piesteritz vom Schnee leergefegt. Keine Menschenseele war zu sehen. Alle saßen in den warmen Stuben hinter dem Ofen und unter dem Weihnachtsbaum; denn es war Heiligabend. Südlich der Straße in Richtung Wittenberg, kurz vor Piesteritz, wo im Sommer noch Kartoffelfelder und Ährenfelder zu sehen waren, befand sich jetzt eine hellerleuchtete Barackenstadt. Hinter den zugefrorenen Fensterscheiben sah man hier und da die Kerzen von Weihnachtsbäumen durchschimmern. Ab und zu erklangen gedämpft Weihnachtslieder. Eine große Baracke längs der Straße fiel besonders wegen ihrer Helligkeit auf. Hier war der Sitz der Bauleitung, hier war Leben; denn hier gab es keine Weihnachten. Das aufgeschlagene, rot umränderte Kalenderblatt auf dem provisorischen Schreibtisch des Bauleiters zeigte den „24. Dezember 1915". Die mit Rotstift vorgenommene Umränderung wies darauf hin, dass an diesem Tage etwas ganz besonderes geschehen sein musste.  Gegenüber der Barackenstadt erhoben sich die in Rekordzeit aus der Erde herausgestampften halbfertigen und fertigen Bauten der Bayrischen Stickstoffwerke AG. Die Bauten ragten wie riesige Silhouetten in den dunklen Nachthimmel. Durch die Lichtreflexe der sich im Sturm bewegenden Bogenlampen, welche das ganze Baugelände netzförmig umspannten, wirkten sie wie sich hin und her bewegende Riesen. Wo man hinschaute, ein Bild intensiver Arbeit. Hier Erdhaufen, dort große Kanäle für Rohrleitungen, da wieder Feldbahngleise, alles umrahmt von einzelnen bzw. Gruppen von Fichten, den kümmerlichen Resten des ehemaligen Waldstückes, welches sich hier nördlich längs der Straße erstreckte. Ein riesiger Bau, welcher nach allen Seiten Lichtbündel scheinwerferähnlich in den Nachthimmel schickte, wirkte, da auf der Südseite aus allen Öffnungen graue und weiße Schwaden herausdrückten, wie eine moderne Hexenküche. Geschäftig sah man in diesem Bau Ingenieure, Meister und Arbeiter treppauf und treppab eilen. Selbst aus der Barackenstadt sah man trotz des eisigen Wetters ab und zu Männer eiligst dem geheimnisvollen Bau zustreben.

Was war nun hier los, was gab es hier zu sehen?

Dieser geheimnisvolle Bau war das Karbid-Ofenhaus (1. Ausbau Ofenhaus Süd), mit dem Karbidofen Nr. 1, welcher am 22. Dezember 1915 in Betrieb genommen wurde. Hier in diesem Bau konnte man die große Sensation des Tages sehen, und zwar wie in riesigen elektrischen Öfen Karbid hergestellt wurde. Monatelang hatte man fieberhaft gearbeitet, um den Einschalttermin einzuhalten. Man hatte sich das große Ziel gesteckt, dem genialen Erbauer und Erplaner des Werkes, Herrn Baurat Janisch, das erste Karbid auf den Gabentisch unter den Weihnachtsbaum zu legen und hatte es auch wirklich geschafft. Unter allen erforderlichen Vorsichtsmaßregeln wurde Ofen 1 am 22. Dezember 1915 eingeschaltet. Die wenigsten des Aufsichtspersonals sowie der Bedienungsmannschaft hatten je einen solchen Ofen in Betrieb gesehen, vielmehr daran gearbeitet. Man konnte sich vorstellen, welche tollen Gerüchte schon wochenlang vorher bei den Montagearbeitern auf der Baustelle von Mund zu Mund weitergegeben wurden, sich von Tag zu Tag steigerten und den Einschalttag zu einem gewaltigen Sensationsereignis machten, welcher von allen fieberhaft erwartet wurde. Man sprach von meterlangen Lichtbogen, donnerähnlichen Stromübergangsfunken, tödlichen elektrischen Schlägen, riesigen alles verbrennenden Strahlungstemperaturen, Azetylengasexplosionen usw.

Wie war es wirklich?

Am 22. Dezember 1915 wurde der Ofen 1 zugeschaltet. In sicherer Entfernung umstand der größte Teil der Bedienungsmannschaft sowie das Gros der Montagearbeiter um den Ofen, als der verantwortliche Betriebsleiter das Zeichen der Zuschaltung gab. Das Ausschlagen des Spannungsanzeigers am Regulierpult zeigte den bis zum Äußersten erregten Verantwortlichen, dass der Ofen unter Spannung stand und - alles blieb still.

Fortsetzung auf der Rückseite des Programms Januar 2016