Heimatverein Lutherstadt Wittenberg und Umgebung e.V.
  Wanderer, hüte dich...
 

Wanderer, hüte Dich vor „Frauen-Volk"


Auch in diesem Jahr machte sich unser Vorsitzender im Gewand von Martin Luther auf Wanderschaft von Torgau nach Wittenberg. Einige Mitglieder des Vereins empfingen die Gruppe in Elster und an der Wendel.
Von Heinrich Kühne ist uns zum Thema Wandern nachfolgende Geschichte überliefert:
 Im Wittenberger Stadtgeschichtlichen Museum im Schloss hängen drei Knotenstöcke. Sie gehörten einst den wandernden Gesellen, die noch auf Schusters Rappen durch Deutschland zogen und dann nach Wittenberg zurückkehrten oder hier „hängenblieben", weil sie eine junge Meisterswitwe (manchmal auch eine ältere) oder des Meisters Töchterlein heirateten. Die Anzahl der Innungsmeister war in jedem Ort vorgeschrieben und nur sehr schwer konnte ein neuer Meister aufgenommen werden.
Was könnten diese Stöcke alles erzählen? Mit einem Wanderlied auf den Lippen, das Felleisen auf dem Rücken (das war der Ranzen des Handwerksgesellen; das Wort kommt von velis = lederner Reisesack) ging es durchs Elbtor durch die Dübener Heide. Gleich in Kemberg, wo man die Nacht verbrachte, betrat man die St.-Wolfgangs-Kapelle, die vor dem Heidetor lag, und holte sich Stärkung für den bevorstehenden schweren Marsch durch den dunklen Wald nach Düben. „Nach diesem Städtchen reiset man" - so heißt es in einem Lexikon vom Jahre 1787 - „von Wittenberg aus auf dem sogenannten hölzernen Steinwege. Weil von dort aus der selbige Weg so sumpfig und morastig ist, dass er deswegen stets mit Hölzern belegt werden muss, so hat man ihn daher aus Schertz also genennet." —
Einige von ihnen hatten sich nicht nur durch die Altgesellen informieren lassen, sondern lasen in einem der ge¬druckten Reisehandbücher nach, was so alles passieren konnte. Ob sie zwar stets die gutgemeinte Belehrung beachtet und im entscheidenden Augenblick daran gedacht haben, ist nicht überliefert. Hieß es doch darin: „...Unverschämtes Küssen und Betasten ist als Gift zu fliehen. Rede mit der Magd im Hause nicht mehr als die Noth erfordert, sey zwar gut Freund mit ihr, gewöhne dich aber nicht dieselbe unverschämt zu küssen oder sonst unziemlich anzugreifen, noch weniger aber gar zu ihrem Bette zu nahen. Wenn du aber soweit kommen lassest, so bist du schon gefangen, und wirst nicht leicht wieder aus dem Netz kommen. Denn das Frauen-Volk ist wie der Vogel-Leim, wer demselben zu nahe kommt, der muss entweder Federn lassen, oder er wird gar gefangen."
Gleichzeitig konnte er aber auch die Kleinstaaterei im damaligen Deutschland auf den ersten Blick kennen lernen, wenn er seinen Lohn nachrechnen wollte, dabei musste er Umrechnungswerte  beachten, denn von nahezu 50 Währungsgebieten war in seinem Ratgeber eine Tabelle vorhanden.
Das Reisen mit der Postkutsche ging zwar schneller, doch war nicht immer angenehmer. Der spätere Musikdirektor Stein hatte so etwas noch in seiner Jugend erlebt. Das Geld reichte bei ihm nicht für die „extraordinäre" Postkutsche, sondern nur für eine Fahrt auf dem Fuhrmannswagen.
Das moderne Reisen unserer Tage hat viele Vorteile, doch auch seine Nachteile. Man verliert zu leicht den Blick für liebenswerte Einzelheiten am Wege, interessante Bauten rasen vorüber, ohne dass man sie recht wahrgenommen hat. Die reizvolle Geschichte des Landstriches und der Örtlichkeit bleibt für uns dabei unbeachtet. Wie heißt es doch so schön: „Reisen bildet nur dann wirklich, wenn man gebildet reist, wenn man die Augen und den Sinn  für die  neuen  Eindrücke öffnet."
Heinrich Kühne „Freiheit" Nr. 187 vom 8. August 1970