Heimatverein Lutherstadt Wittenberg und Umgebung e.V.
  Ein Wittenberg-Brief von 1868
 

Ein Wittenberg-Brief von 1868 mit Überraschung

Seit über 40 Jahren befasse ich mich mit der Wittenberger Postgeschichte und bin regelmäßig auf der Suche nach neuen Stücken für meine Sammlung. Der kleinformatige Brief vom 11. Dez. 1868 wurde im Februar 2021 in einem Internetportal ohne nähere Inhaltsangabe für kleines Geld angeboten. Der scheinbare „Damenbrief“ von 7x 9,5 cm aus Wittenberg nach Luckenwalde, drei Jahre vor Gründung des Deutschen Reiches 1871 versandt, wurde portogerecht mit 1 Groschen Norddeutscher Postbezirk frankiert.

Die Überraschung kam nach Erhalt. Das Poststück aus der Festung Wittenberg wurde doppelt verwendet. Inwendig war der Brief portofrei als „Soldatenbrief'“ adressiert an den „Füsilier Gustav Böttcher 9. Comp. 8tes B.l.R. Nr. 20“ (abkommandiert nach Wittenberg), von den Eltern aus Luckenwalde mit kurzem Gruß versehen worden. Zur Rückantwort hatte Sohn Gustav das Papier einfach gewendet, innenseitig beschrieben, neu gefaltet und mit der beigelegten 1 Groschenmarke frankiert.

Der Füsilier redet seine Eltern respektvoll in der Sie-Form an und berichtet vom Soldatenleben beim
Brandenburgischen Infanterie Regiment in Wittenberg:
Wittenberg, den 11.12.1868
Liebe Eltern,
da ich etwas Zeit übrighabe, will ich Sie in Kenntnis setzen, was ich hier mache. Ich steh um 6 Uhr auf, nach anziehen und Stube machen ist Kaffee trinken um 7 Uhr. Um Viertel auf Acht treten wir an zur Arbeit bis Mittag von 72 auf 1 Uhr. Wir müssen die neuen Schießstände bauen. In unserem Bataillon sind wir 32 Mann vom 24. Regiment, 64 Mann vom 35. Regiment und 32 Mann von den 20ern, die wir alle Schießstände bauen. Des Nachmittags haben wir keinen Dienst, als Qual müssen wir aber mit Sachen antreten. Es gefällt mir soweit ganz gut, aber das Mittagessen ist hier teurer als in Treuenbrietzen. Für 2 ½ Sgr (Silbergroschen) kann man sich kaum satt essen, denn es schmeckt wahrhaftig, wenn man so lange draußen gewesen ist. Aber das Brot was wir bekommen ist sehr schlecht, sehr sauer und schwarz wie Erde. Liebe Eltern, die Feiertage werde ich in Ihrer Mitte verleben, aber nur die 3 Feiertage, mehr Urlaub bekommen wir nicht.
Mehr weiß ich nicht zu schreiben. Gesund und munter bin ich Gott sei Dank. Das Essen schmeckt vortrefflich, es wird nur immer viel zu früh alle.
Bitte um baldige Antwort. Viele Grüße an meine Geschwister und an unsere Stammgäste. (Anmerkung: Die Eltern waren die Wirtsleute in Luckenwalde, Friedrich Straße 65) In der Hoffnung, dass Sie diese wenigen Zeilen bei guter Gesundheit antreffen, verbleibe ich Euer gehorsamer Sohn Gustav.

Zum besseren Verständnis nachfolgende Anmerkungen des Autors:
Bei den genannten Regimentern in Wittenberg handelte es sich um
- das Brandenburgische Infanterie-Regiment Nr. 20
- das Brandenburgische Infanterie-Regiment Nr. 24 (Großherzog von Mecklenburg-Schwerin)
- das Brandenburgische Füsilier-Regiment Nr. 35
Füsiliere waren meist einjährig freiwillige Militärangehörige. Bei der Infanterie zählten sie neben Musketieren und Grenadieren zu den „Gemeinen“ als Bezeichnung für die untersten Dienstgrade.
Ein einfacher Fußsoldat erhielt nach Abzug von Brot- und Kleidungskosten einen Taler und acht Groschen Sold im Monat (Anmerkung: Von 1821-1871 waren 1 Taler = 30 Sgr, 1 Sgr = 12 Kupferpfennige). Das Quartier der Soldaten war frei und ein Soldat erhielt täglich 1 ½ Pfund Kommissbrot. Bedingt durch diese karge Entlohnung durften die Soldaten in Friedenszeiten tageweise ihrem Beruf nachgehen für einen geringen Zuverdienst. Sie arbeiteten bei Wittenberger Handwerksmeistern bei Aufträgen des Militärs mit, u. a. bei Tuchmachern, Schreinern, Bäckern oder als Handlanger beim Bau. Das Wittenberger Kreisblatt schrieb quartalsweise die Anfuhr von Brennholz und die Leerung der Latrinen für die Kasernen aus. Selbstredend halfen auch hier „Gemeine“ in Uniform mit. Während eines Feldzuges versorgte sich der Soldat von seinem Sold und den Zulagen, die er erhielt. Das waren dann zwei Pfund Brot täglich und wöchentlich zwei Pfund Fleisch.
Dr. Richard Thomas
 
 
   
 
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