Heimatverein Lutherstadt Wittenberg und Umgebung e.V.
  Die Wittenberger Pferdebahn
 

Die Wittenberger Pferdebahn 1888 ‐ 1919

Wenn man auf das Verkehrswesen vergangener Zeiten zurückblickt, findet man im Altertum schon
benutzte Steingleise, in denen Wagen bewegt wurden. Später benutzte man besonders im Bergwerk
Wagen auf Schienen, die mit Pferden bespannt waren. 1824 wird die Mutter aller Straßenbahnen in
Österreich erfunden. Die Schienen sind lange, mit Bandeisen beschlagene Balken, die auf Schwellen
ruhen. Die Wagen sind Postkutschen gleich, die Bespannung ein Pferd. 1865 baute man in Berlin-
Charlottenburg eine 8 km Pferdebahn, und die Wiener Weltausstellung führte zur Gründung der großen Berliner-Pferde- Eisenbahn A.G. mit der Strecke Rosentaler-Tor-Gesundbrunnen. Jetzt erwachte in dem übrigen Deutschland der Pferdebahnkollaps. Alle Groß- und Mittelstädte bauten eine Pferdebahn.
Die guten Wittenberger wollten auch eine
Bahn haben. Sie wählten zwischen den
abgelegten Bahnen herum, denn Geld
wollten sie nicht ausgeben. Sie
fürchteten den Radau, glaubten die
Häuser fielen ein. Bis Vater Herfurth, der
mit seiner Krabbelbude alle Großstädte
bereiste, in den Holzmarkt ins
Winterquartier kommt. Er verlangte im
Verein für städtische Angelegenheiten
einen gummibereiften Kraftomnibus.
Dieser für 30 Personen sei überall
einsetzbar und könnte Schlossstraße,
Collegienstraße – Bahnhof und zurück über Jüdenstraße, Coswiger Straße fahren. Die Bewohner der Collegienstraße stimmten zu, weil sie hofften, dass dadurch nicht nur ihre, sondern auch die Bewohner der anderen Straße zustimmen würden. In der Not gibt der Magistrat die Baukonzession zur Pferdebahn auf 30 Jahre an Herrn E. Rettich. Dieser führt sie von der Juristenstraße zur Bahn. Weil sie an der Adler Apotheke stets aus dem Gleise springt, verlegt man sie später zum „Schwarzen Bär“ in die Schloss Straße. 1888 war die Bahn fertig. Der Wagen stand bekränzt auf dem Hofe der Juristenstraße. Halb Wittenberg versammelt sich zur ersten Fahrt. Jetzt wurde der Wagen unter allseitiger Beteiligung aus dem Hof geschoben. Hierbei sprang er erstmalig an der Biegung aus dem Gleise. Mit großer Verspätung langte er vor Markt 23 an, und die Leute drückten sich an den Glasscheiben die Nasen platt. Bald traf der gesamte Magistrat und die Honoratioren der Stadt ein. Sie füllten den Wagen. Nun trifft bescheiden am Zügel die geführte „Rosamunde“, die edle Araberstute, ein und wird vorgehangen. Sie hatte die drei Kriege 1864,66 und 70 mit Auszeichnung bestanden, war bei der letzten Vogelwiese im Hippodrom als Damenpferd tätig und hatte sich von den Reiterinnen allerhand angewöhnt, wovon keiner der Anwesenden eine Ahnung hatte. Unter lautem Klingeln wurde der übervolle Wagen angeschoben und wäre die Elbgasse runtergerollt, wenn er nicht vor Markt 1 aus dem Gleise gesprungen wäre. Schnell entleerte er sich, wurde mit aller Hilfe wieder eingegleist, besetzt und angeschoben. Man war schon im Schritt bis zum Holzmarkt als der Kutscher zur Peitsche griff. Misstrauisch, mit angelegten Ohren, beobachtete die Stute sein Vorhaben. Dann schlug sie gegen die Vorderwand der neuen Pferdebahn, wobei ihr der Strang unter den Bauch gelangte. Das war zu viel für ein qualifiziertes Damenpferd. Jetzt zeigte sie was sie gelernt hat. Bösartig wedelte sie mit dem Schwanz, stellte die Beine breit und ein Wasserstrahl fliegt gegen den Kutscher und die Fahrgäste, der größer als die Wittenberger Feuerspritze ist. Im Nu ist der Wagen geräumt, die Vorderen sind total durchnässt. Stadtrat Elfe schüttelt seinen Vollbart aus, der Bürgermeister hat im Gedränge seinen Zylinder verloren und putzt seine Brille. Der Landrat nach einem Taschentuch rief, weil seines Zuhause in der Kommode liegt. Der Kutscher haut auf die Stute bis der Quell versiegte ist. Dann ging es besetzt mit der Jugend der Stadt im Galopp zum Bahnhof. Am nächsten Tage wurde „Rosamunde“ gegen einen fuchsroten Krakehlerhengst vertauscht. Dieser hat mit seiner Kutsche jahrzehntelang zum Wohle der Stadt und zum Ergötzen der Jugend die Pferdebahn bedient. Der große Erfinder Siemens, der viele Bahnen in aller Welt baute, die Stadt und den Landkreis Wittenberg sogar im Reichstag vertrat, brachte es nicht fertig, der Wittenberger Pferdebahn Konkurrenz zu machen. Später bildete die alte Pferdebahn sich als Verkehrshindernis aus und musste 1919 beseitigt werden.
Quelle: Gekürzt aus Otto Bendler – Wittenberger Geschichten
Elke Hurdelbrink