Heimatverein Lutherstadt Wittenberg und Umgebung e.V.
  Erntebräuche aus der Heimat
 
Erntebräuche aus der Heimat in alter Zeit (R. Reichardt)

Bei unseren Vorfahren war die Ernte eine heilige Zeit. Ge­richt und Rechtsprechen ruhten, Hochzeiten wurden nicht gehalten, Lustbarkeiten wurden nicht veranstaltet. Ein festlicher Tag war der Beginn der Ernte. Nicht selten wurde am Montag der ersten Ernte­woche in der Frühe ein Erntebittgottesdienst gehalten. Schnitter und Schnitterinnen legten Sicheln und Sensen an der Kirchentür nieder und hielten ihre Bittgebete im Gotteshause. Man schmückte auch wohl Kleider und Mützen mit bunten Bändern und buk Kuchen. Der
erste Sensenstrich wurde mit einem herzlichen „Walts Gott“ getan. Der Besitzer des Ackers oder Fremde, die das Erntefeld betraten, wurden im Scherz mit Erntehalmen oder kleinen Strohkränzchen am Arme gebunden und mussten sich durch ein Geldgeschenk lösen.

Allerhand Aberglaube verband sich mit der Erntearbeit. Man findet noch heute Reste von altem Volksglauben an Erntedä­monen, z. B. die „Kornmutter“ oder „Kornmuhme“, die im Korn sitzen und es schädigen. Dahin gehört auch der „Alte“, ferner der „Stoppel- oder Erntehahn“. Ein Überrest der letzteren Anschauung findet sich noch in der Sitte des im Osten Deutschlands anzutreffen­den „letzten Hahns“. Am Erntefeste wird ein Erntekranz mit dem Bilde eines Hahns von den Erntearbeitern der Herrschaft einge­bracht. Auch das „Hahnenschlagen“ ist ein Überrest eines alten Ern­tebrauches. Mit dem Ende der Ernte verbinden sich viele sinnigen Erntesitten. Im alten Kursachsen wird noch bis auf unsere Tage das Erntefest nach Aberntung der Halmfrüchte von den Gemeinden selbst festgesetzt. Der „gute Montag“, der mit dem „blauen“ Montag der deutschen Handwerker und dem „grünen“ Montag der Erfurter Gilden, dem „freien“ Montag Dänemarks und dem „heiligen“ Mon­tag Englands in Berührung steht, war einer der festlichsten Tage des Jahres. Uralt ist die Volkssitte, die sich auch in unserer Heimat nachweisen lässt, dass man beim Abmähen der letzten Getreidefelder einige Halme stehen lässt. Man weihte sie wohl in altgermanischer Zeit den Erntegottheiten, später kam die Volksmeinung auf, man dürfe dem Acker nicht alles nehmen, um ihn für die Zukunft wieder ertragsfreudig zu machen. Man drehte die letzten Halme zu einem Gebilde zusammen, kniete vor ihm nieder oder sprang in ausgelas­sener Lust darüber hinweg.

Das Einbringen des Erntekranzes mit seinen gemütvollen Bräuchen war auch in unserem Kirchenkreis allgemein Sitte. Er war aus Erntehalmen und bunten Blumen gewunden und prangte oben auf der Höhe des letzten Fuders, auf welchem die Erntearbeiter saßen und fröhliche Lieder sangen. Im Hofe des Ernteherren wurde er von dem Vormäher oder einer Schnitterin der Herrschaft mit ei­nem gereimten Spruch überreicht. Abends wurde beim festlichen Schmause des Abschlusses der Ernte mit dem Liede „Nun danket alle Gott“ und einer Rede des Ernteherren gedacht. Heute wird am Erntefeste wohl noch überall ein Kranz in Kirche und Haus aufge­hängt. In einigen Gemeinden unseres Kirchenkreises werden auch Erntegeräte und Erntegaben am Altar der Kirche niedergelegt. Nach dem
festlichen Erntemahl wurde auf der Scheunentenne oder auf der Diele des Hauses getanzt, wobei nach guter alter Sitte der Hausherr mit einer Schnitterin, die Hausfrau mit dem Vormäher den ersten Reigen eröffneten.

Rudolf Reichardt, Pfarrer

 

Am 27. Dezember 1859 in Nordhausen geboren, hier besuchte er auch das Gymnasium. Im Anschluss daran studierte er Theologie. Von 1886 bis 1897 hatte er die Pfarrerstelle in Haferungen bei Nordhausen inne. Danach, bis zu seiner Pensionierung im Mai 1928 hatte er das Pfarramt in Rotta verwaltet. Er starb im Oktober 1929 in Wittenberg.