Heimatverein Lutherstadt Wittenberg und Umgebung e.V.
  Piesteritzer Karbid 2
 

Geburtsstunde des Piesteritzer Karbides am Weihnachts-Heiligabend 1915

Teil 2

Was war los, was hatte man verkehrt gemacht, wo blieben die donnerähnlichen Schläge, wo die meterlangen Funken usw.? Nach kurzer Zeit ein leises Knistern, leichtes Aufsteigen von Rauch. Was hatte man getan? Man hatte den Ofen zu reichlich abgedeckt, der Ofen nahm deshalb nur ganz langsam Last auf. Als der Leistungsanzeiger sich einige Millimeter vom 0-Punkt entfernte und sich langsam, sehr langsam in Richtung des roten Striches bewegte, ging ein Aufleuchten über das Gesicht des Verantwortlichen. Die erste Etappe war geschafft, der Ofen war zugeschaltet. Nun kam die zweite Etappe, mit dem Ofen Karbid zu erzeugen. In der Rohmaterialhalle (1. Ausbau Rohmaterialhalle Süd) wurden mittels Kran die bereitgestellten, kinderkopfgroßen, gebrannten Kalksteinstücke sowie der Koks auf die Deckbühne des Ofenhauses (Ofen 4) abgesetzt. Das Ofenhaus war auf allen Bühnen, nach allen Richtungen offen gelassen, um bei den „gewaltigen Temperaturen!" für eine einwandfreie Wärmeabfuhr zu sorgen (diese Annahme hat sich später als falsch erwiesen und nach und nach wurden überall Verkleidungswände eingezogen). Am Einschalttag war nur der Ofen 1 fertig gestellt, alle anderen Öfen befanden sich, abklingend nach Ofen 4 zu, nur im Rohbau in den verschiedensten Baustadien. Etwa 15-20 mit Handschuhen, Ohrenschützern, dicken Jacken ausgerüstete Arbeiter standen hier auf der Deckbühne von Ofen 4 in einem eisigen Nord-Ost-Wind und zerschlugen mit Vorhämmern die großen Kalksteine in faustgroße, gebrauchsfertige Stücke. Eine zweite Kolonne von etwa zehn Mann stand an aufgestellten Dezimal-waagen und wog die Rohstoffe Kalk und Koks nach noch „geheimnisvollen“ Mischungsverhältnissen ab (gefahren wurde in den ersten Jahren nur mit Kalk und Koks). Nachdem nun das Material von Hand durch Umschippen gut durchgemischt war, lud eine dritte Kolonne von etwa sechs Mann die geheimnisvolle Mischung auf Hunte (kleine Wagen) und fuhr diese auf Feldbahnschienen bis vor den Ofen 1, von wo aus wieder von den Deckleuten einer Kolonne von einem Deckpostenmann und sechs Mann die Mischung in den Ofen eingeschippt wurde. Die Deckarbeiter des Ofens hatten sich auf die prophezeiten tropenähnlichen Temperaturen vorbereitet und standen nun, sobald sie sich einige Meter vom Ofen entfernt hatten, in dem über die Bühne pfeifenden Ostwind und froren hier ganz jämmerlich. Nach dem nun hier und da die üblichen undichten Stellen abgedichtet und einige Schmorstellen behoben waren, war mittlerweile der 24. Dezember herangekommen. Am Abstich war die Abstichkolonne, bestehend aus dem Postenmann, dem Brenner, sechs Abstichleuten und dem Rutenklopfer, mit Hilfe der Abstichmaschine damit beschäftigt, das Abstichloch aufzubrennen (Schutzschild war nicht vorhanden). Hier am Abstich war großer Betrieb. Es gab wohl kaum einen Arbeiter der Großbaustelle, welcher nicht ein bis mehrere Male am Tage unter fadenscheinigen Begründungen um diesen geheimnisvollen Ort herumschlich, um ja nicht den historischen Moment des ersten Karbidabstichs in Piesteritz zu verpassen. Die Geduld dieser Kollegen wurde auf eine sehr harte Probe gestellt; ganz plötzlich, abends 22 und 24 Uhr, wurde beim Aufbrennen des Abstichloches das Abstichloch hell und heller. Zuerst trat ein dünner, weißglühender Strahl zaghaft aus dem Abstichloch heraus, sich schnell verbreiternd, um als Strahl in im Keller bereitgestellte gusseiserne Pfannen aufgefangen zu werden. Der historische Moment war da, der erste Karbidabstich war am 24. Dezember 1915 zwischen 22 und 24 Uhr erfolgt. Noch war es nur eine geringe Menge, welche herausgelaufen war. Mit vieler Mühe gelang es das Abstichloch wieder zu schließen. Die Pfannen mit dem ersten Karbid wurden nun zum Abkühlen bereit-gestellt. Ein besonders schönes Stück wurde herausgeschlagen und ein Sonderbote eilte mit einem Schauglas des „1. Piesteritzer Karbides" nach Berlin, um es noch in später Nachtstunde auf den Gabentisch des Erbauers zu legen. Nach dem Abkühlen ging wohl fast jeder zur Lagerstelle, welche, da die Brechanlage im Kalkstickstoff-Betrieb noch nicht fertig gestellt war, provisorisch in einer Ecke von Ofen 4 eingerichtet war, um sich ein Musterstück des übelriechenden Karbides als Andenken mitzunehmen. So mancher erlebte dabei seine Überraschung, schon nach wenigen Stunden hatte sich das sichergestellte Stück Karbid zersetzt und war zerfallen. Millionen von Karbidabstichen haben seit diesem historischen Tag stattgefunden, und wir Piesteritzer wollen alle hoffen, dass noch weitere Millionen folgen werden. Am 01.01.1994 wurde die Karbidproduktion eingestellt und es begann der Abriss des Ofenhauses, Ca-Brecherei, Sortieranlage usw. Im Laufe der Jahre wurde das Südwerk abgerissen.